Ich möchte euch in meinen nächsten Beiträgen einige der Kinder vorstellen, die ich in der KiTa betreuen darf. Die Namen sind geändert* und weil ich auch keine Fotos veröffentlichen darf, habe ich die jeweiligen Lieblingsspielzeuge oder Hilfsmittel der Kinder fotografiert, damit der Beitrag nicht allzu "trocken" ausfällt.
Den Anfang mache ich mit Avi*, meinem besonderen Schützling. Für die Kinder mit komplexen Behinderungen haben wir eine Art Bezugs - Betreuung. Die Bezugsperson achtet darauf, dass die Kinder nach den Vorgaben der Therapeutinnen betreut und gefördert werden.
Avi leidet unter körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen, die bisher keinem bestimmten Syndrom zugeordnet werden konnten. Diese Woche wurde bei ihm eine MRI Untersuchung vorgenommen, in der Hoffnung, endlich eine Diagnose stellen zu können.
Avi ist zweieinhalb Jahre alt, hat braune Locken, grosse dunkelbraune, ausdrucksvolle Augen und ein strahlendes Lächeln. Wenn ihm etwas gefällt, erschallt aus voller Kehle sein ansteckendes Lachen.
Sprechen kann er nicht aber er kann durch seine Körpersprache und lautstarken Protest recht gut ausdrücken, was er will oder was nicht. Seine Körperspannung ist stark erhöht, er überstreckt oft Arme und Beine und zeigt eher wenig gezielte Eigenbewegungen. Ausserdem scheint seine körperliche Selbstwahrnehmung eingeschränkt zu sein. Um ihn gezielt zu fördern haben Physio- und Ergotherapeutinnen mich in verschiedene Wahrnehmungs- und Bewegungsübungen eingeführt, die ich wiederum meinen Kolleginnen gezeigt habe. Momentan spiele ich zum Beispiel mindestens zweimal täglich 10-15 Minuten in Bauchlage mit ihm. Ich rolle ihm verschieden grosse Bälle zu, die er in den Händen dreht (es gibt ein Lied dazu, das er sehr mag) und dann zu mir zurück rollt. Ich achte darauf, dass die Bälle auch mal links oder rechts von ihm landen, damit er sich bewegen muss, um sie zu erreichen. Er spielt aber lieber im Sitzen, wobei sein Favorit das Spiel auf dem ersten Bild ist: Wenn man die Kugel oben in die Öffnung hineindrückt, löst sie eine fröhliche Melodie aus und rollt die "Kugelbahn" hinunter. Davon kann Avi nicht genug bekommen! Zum Hinunterdrücken der Kugel benötigt er noch Hilfe, die er seit einigen Tagen von Chavah (von der ich euch als nächstes berichten werde) bekommt, die ihm mit Engelsgeduld die Kugeln in die Hand gibt und für ihn hineindrückt. Das macht beiden grossen Spass und ihr begeistertes Gelächter lässt andere Mitarbeitende neugierig durch die Tür hineinschauen.
Beim Essen sind wir am üben, dass er sich Bissen, die man ihm in die Hand gibt, selber in den Mund steckt, was vor allem dann klappt, wenn es etwas besonders leckeres ist, wie zum Beispiel Erdnussflips, die hier "Bamba" genannt werden. Mittags gebe ich ihm den Löffel in die Hand und helfe ihm, diesen zum Mund zu führen. Trinken kann er mit seinem Spezialbecher alleine. Nach dem Frühstück steht eine gute Stunde Stehtraining auf dem Programm mit dem Gerät auf dem zweiten Bild (Symbolbild von der ADI Website). Ein Highlight für Avi ist die wöchentliche Wassertherapie, wobei er auf das nachfolgende Duschen problemlos verzichten könnte...
Etwas neues ist für Avi das "Elektromobil" (das in verschiedenen Ausführungen entwickelt wurde, um Kinder auf den Umgang mit einem Elektrorollstuhl vorzubereiten) in dem er strahlend im Hof herumkurvt (Bild 3). Mit dem grünen "Knopf" wird "Gas gegeben" und die nächste Stufe wäre dann der Joystick, mit dem gesteuert werden kann. Ich durfte auch Avis Mutter kennenlernen, die begeistert ist von unserer Arbeit und auch zuhause fleissig mit ihm übt. Ich habe Avi ins Herz geschlossen und liebe ihn sehr, was ganz offensichtlich auf Gegenseitigkeit beruht - der Abschied von ihm wird mir schwerfallen!
Cavah* ist zwei Jahre alt und hat keine Krankheit oder Behinderung, sondern sie kommt aus einer schwierigen Familiensituation und sollte eigentlich fremd-platziert werden. Die zuständige Sozialarbeiterin hat den Vorschlag gemacht, Chavah in die KiTa von ADI zu schicken und die Eltern, die mit ihr und der jüngeren Schwester völlig überfordert sind, engmaschig zu begleiten und im Umgang mit ihren Kindern zu schulen. Ich hoffe sehr, dass die Eltern die Chance packen und Chavah in ihrer Familie bleiben kann. Man merkt ihr die Verwahrlosung und Vernachlässigung deutlich an. So kommt sie morgens oft mit der vollen Nachtwindel, schmutzigen Kleidern und verfilzten Haaren in die KiTa. Zuhause scheint es keinen Tagesrhythmus zu geben, darum fällt es Chavah oft schwer sich in den Tagesablauf der KiTa einzufügen. Wenn sie etwas nicht einordnen kann, man sie nicht sofort versteht oder ihr etwas missfällt schreit sie wie am Spiess und schlägt wild um sich und es braucht viel Liebe, Geduld und feste Umarmungen, um zu ihr durchzudringen. Chavah ist sehr anhänglich und sucht die körperliche Nähe zu uns Betreuenden. Sie wird bei uns zweimal pro Woche geduscht (am Therapiebad-Tag und am Freitagmorgen) und fast täglich frisch angezogen (die Kleider werden in der ADI-Wäscherei gewaschen) und frisiert. In den drei Monaten, in denen ich hier bin, hat sie grosse Fortschritte gemacht, kann besser ausdrücken, was sie möchte und findet schneller aus ihren Schreiattacken heraus. Seit kurzer Zeit ist Avi ihr "bester Freund" und sie umsorgt ihn liebevoll, holt weggerollte Bälle für ihn zurück, stellt umgekippte Spielsachen wieder auf und leistet ihm Gesellschaft wenn gerade niemand von uns Zeit für ihn hat. Durch meine Mitarbeit in der Arbeitsgruppe für Wahrnehmungs- und Entwicklungsfördernde Pflege der Neonatologie und meinem Wissen über Bindungsaufbau und Bindungsprobleme, kann ich meinen Kolleginnen viele wertvolle Tipps geben, wie sie Chavah in ihrer Fähigkeit zur Selbstregulation und im Umgang mit Frustration unterstützen und fördern können. Es begeistert mich, dass ich mein Wissen und meine Erfahrung hier weitergeben kann und mein Input sehr geschätzt wird.
Chavah spielt am liebsten im "Beit" (Hebräisch Haus - siehe erstes Bild), das erst seit Anfang April in unserem Zimmer steht. Auch hier hat sie Fortschritte gemacht: anfangs wollte sie keine anderen Kinder hereinlassen, wenn sie im Haus war aber inzwischen spielt sie mit den anderen zusammen und es gibt nur noch selten Streit. Das Essen ist oftmals ein Kampf, da Chavah sich weigert mit Löffel oder Gabel zu essen und oft mit dem Essen spielt - wenn sie genug hat und "dai" (fertig) sagt, muss man schnell sein, sonst fliegt der Teller auf den Boden. Genau wie Avi hat Chavah ein umwerfendes, ansteckendes Lachen und man muss sie einfach gern haben. Ich hoffe sehr, dass sie sich weiterhin so positiv entwickelt!
Adiv* - der Name, den ich ausgesucht habe, bedeutet "sanftmütig/zart" und beschreibt das Wesen unseres zweijährigen Sorgenkindes perfekt. Adiv ist mit nur einer Herzkammer (Hypoplastisches Linksherzsyndrom) geboren worden und hat schon mehrere Herzoperationen hinter sich. Seine Kräfte sind beschränkt und wenn er sich anstrengt bekommt er schnell blaue Lippen und Fingernägel. Als ich kam konnte er nur mit einer Gehhilfe (eine Art Kinderrollator) gehen. Seit einigen Wochen läuft er frei bis zu zehn Meter weit. Danach ist er allerdings erschöpft, muss sich etwas ausruhen und verlangt dann meist nach "Majim" (Wasser). Wenn er in die KiTa kommt und alle mit einem Lächeln begrüsst, geht die Sonne auf. Er ist ein exzellenter Beobachter und meldet uns sofort, wenn ein anderes Kind ein Problem hat, ihm etwas runter gefallen ist, es sich wehgetan hat oder jemand weint. Er kann schon recht gut sprechen und umwerfend verschmitzt lächeln. Wenn jemandem etwas gelingt, freut er sich mit und klatscht Beifall. Er liebt das Pappbuch mit den Tieren und wird nicht müde ihre Stimmen nachzuahmen. Interessanterweise sagt er beim Lamm immer "es weint" und macht entsprechende Geräusche. Wir konnten bis jetzt nicht herausfinden, was es damit auf sich hat. Vielleicht hat er zuhause eine Geschichte gehört, in der ein Lamm weint... Vor Hunden scheint er sich ein wenig zu fürchten, bellt zwar wenn man ihn fragt, was der Hund macht, aber hält sich beim Anblick des "Kelef" (Hund) die Augen zu und jammert "oioioi".
Auch Adiv spielt sehr gerne im "Beit" (Haus) und "wäscht" dort im Waschbecken Früchte und Gemüse, wobei er täuschend echte Wassergeräusche von sich gibt. Oft sitzt er irgendwo und schaut aufmerksam dem Treiben in der KiTa zu. Er merkt sich alles was er beobachtet und überrascht uns damit, dass er Dinge nachahmt, die er gesehen hat. Die Familie von Adiv's Mutter stammt aus Frankreich und sie spricht mit ihm Französisch. Ich spreche auch oft Französisch mit ihm und meine Kolleginnen sind immer fasziniert, dass sie kein Wort verstehen, Adiv aber genau weiss, was ich gesagt habe. Er antwortet jedoch konsequent auf Hebräisch. Gestern hat uns Ora, unsere Gruppenleiterin, mitgeteilt, dass die Familie mit Adiv in spätestens drei Wochen nach Frankreich reist, um dort alle notwendigen Abklärungen und Untersuchungen für ein Herztransplantation vorzunehmen. Die Warteliste ist lang, es könnte bis zu vier Jahre dauern, bis (wenn überhaupt) ein geeignetes Spenderherz für ihn verfügbar ist (in Israel besteht offenbar derzeit eine noch kleinere Chance auf ein Spenderherz). Ob sein geschwächtes Herz so lange durchhält ist mehr als fraglich. Falls er bis zur Transplantation an eine Herz-Lungen Maschine angeschlossen werden müsste, würde die Familie in Frankreich bleiben. Wir sind alle traurig, dass uns unser kleiner Sonnenschein verlässt und hoffen und beten von ganzem Herzen, dass ein geeignetes Spenderherz gefunden wird und Adiv langes Leiden erspart bleibt.
Ach, wie berührend Du schreibst, liebe Dagmar! Liebes Drücki aus der Schweiz…