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dvogel82

"Bericht zur Lage der Nation"


Als ich auf einem meiner ersten Spaziergänge diese Israel Fahne entdeckte, war mein erster Gedanke: "Das widerspiegelt die gegenwärtige Situation des Landes!"

Zerrissen in mehrere, ausgefranste Teile, die vom Wind in unterschiedliche Richtungen verweht werden, aber trotzdem hängen sie an der gleichen Fahnenstange.

Ich wusste schon kurz nachdem ich mit meinem Blog begonnen hatte, dass ich einen Beitrag zur politischen und gesellschaftlichen Situation des Landes schreiben sollte und will, tat mich aber bisher schwer mit der Umsetzung.

Nun war ich eine Woche krank (eine Grippe wie aus dem Lehrbuch) und hatte, wenn die Kopfschmerzen es erlaubten, viel Zeit zum Nachdenken. So bin ich zum Schluss gekommen, dass es Zeit ist, dieses heikle Thema nun aufzunehmen. Ich hatte in den vergangenen Wochen viele Gespräche mit Israelis aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und sozialen Schichten und mit verschiedenstem religiösen Hintergrund. Was mir dabei aufgefallen ist, war, dass alle die Justizreformpläne der aktuellen Regierung ablehnen und sich, sollte die Reform durchgesetzt werden, vor den Konsequenzen und Auswirkungen fürchten. Einige, mit denen ich gesprochen habe, nehmen seit Wochen an den Protestaktionen teil, andere wünschten sich, lieber heute als morgen in ein europäisches Land oder die USA auszuwandern.

Ich werde also versuchen, euch einen Einblick in die momentane Situation zu geben entsprechend meiner Wahrnehmung, die natürlich subjektiv ist.


Für einmal habe ich den Eindruck, dass die ausländischen Medien nicht übertreiben mit ihrer Berichterstattung, sondern die Berichte decken sich weitgehend mit dem, was mir Leute erzählt haben, die sich schon länger vertieft mit der Thematik auseinandersetzen. Das ist alles andere als selbstverständlich, wie ich leider aus eigener Erfahrung weiss. Ich möchte euch ein Beispiel geben: Als wir 1999/2000 als Familie für 13 Monate in Jerusalem lebten, begannen die Unruhen der zweiten Intifada (Palästinenseraufstand). Wir bekamen, ausser erhöhter Polizei- und Militärpräsenz, verschärften Zutrittskontrollen und dass wir ab und zu Schüsse aus dem nahegelegenen Quartier "Gilo" hörten, relativ wenig davon mit in unserem Alltag. Meine Mutter rief mich alle paar Tage an, um sich zu erkundigen, ob es uns gut gehe, da ihr in den Fernsehnachrichten ein Bild von kriegsähnlichen Zuständen in ganz Jerusalem vermittelt wurde. Natürlich kam es in manchen Gebieten zu solch schrecklichen Szenen, wofür es auch keine Rechtfertigung gibt, aber die ausländischen Medien suggerierten durch ihre einseitige Berichterstattung ein unrealistisches Bild der Geschehnisse. Ein anderer Punkt in der (meist einseitig pro palästinensischen) Berichterstattung, der für grosse Empörung sorgte war, dass Israel palästinensische Ambulanzen Verwundete nicht auf israelisches Gebiet bringen liess. Was nicht berichtet wurde war, dass es mehrere Vorfälle gab, bei denen die Ambulanzen vollgestopft waren mit palästinensischen Kämpfern, welche nach der Passage des Checkpoints das Feuer auf Menschenansammlungen eröffneten.

Ich will damit nicht Partei ergreifen, sondern aufzeigen, dass in den Medien, auch ohne zu lügen, ein völlig verzerrtes Bild der Realität gezeichnet werden kann. Kritisches Hinterfragen und Offenheit für verschiedene Blickwinkel sind, gerade in der heutigen Internet- und Social Media Zeit eine absolute Notwendigkeit!

Ein anderer wichtiger Punkt ist, dass wir uns bewusst machen, dass im Nahen Osten eine ganz andere Mentalität und Kultur herrschen als bei uns im europäischen Westen. Das spüren wir ja schon in unserem eigenen Land mit der Deutschschweiz, dem Welschland und dem Tessin. Die Bereitschaft, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, ist unerlässlich, um sich wenigstens ein Teilbild der Lage in Israel machen zu können, wo noch viel mehr kulturelle und religiöse Gegensätze aufeinandertreffen!

Über die aktuelle Regierung und die geplante Justizreform könnt ihr euch in der Presse informieren, die wie schon gesagt, diesmal ein etwas ausgewogeneres Bild zeichnet. Ich möchte ein paar Punkte aufgreifen, die aus der Tagespresse nicht so klar hervorgehen und die mir in den Gesprächen über die Situation immer wieder begegnet sind!


- Die Grundidee für die Justizreform ist eigentlich gut und wäre demokratiefördernd. Die Regierung will sie aber so ausführen, dass die Richter von einem Gremium ernannt werden, in dem Regierungsvertreter die Mehrheit bilden und Gerichtsentscheide des Obersten Gerichts könnten durch eine einfache Mehrheit im Parlament (welche die Regierungskoalition hält) rückgängig gemacht werden. Somit verliert die Reform die wesentlichen Elemente, die für mehr Demokratie hätten sorgen sollen.


- In Israel fanden in den vergangenen vier Jahren fünfmal Parlamentswahlen statt. Entweder scheiterte die Regierungsbildung von Anfang an, oder die errungene Koalition brach nach kurzer Zeit auseinander. Das führte mit der Zeit zu einem Politikverdruss bei der israelischen Wählerschaft, zumal es vielen so vorkam, als hätten sie nur die Wahl zwischen "Pest und Cholera" und keine vielversprechende Alternative.


- Die aktuelle Regierung ist eine Koalition, die nur unter Miteinbezug ultraorthodoxer (streng religiöser) Splitterparteien zustande kam. Da Ministerpräsident Netanjahu wegen Bestechlichkeit, Betrug und Veruntreuung angeklagt ist, hat er grosses persönliches Interesse an der Durchsetzung der Justizreform, die der Regierung fast uneingeschränkte Macht verleihen würde. Das Oberste Gericht hätte in einem Fall wie dem, des Ministers Arje Deri, der wegen Bestechlichkeit, Korruption, Veruntreuung und Steuerdelikten mehrmals rechtskräftig verurteilt wurde, nicht mehr die Befugnis, dessen Ernennung rückgängig zu machen. In der aktuellen Regierung gibt es zudem nur wenige Minister und Abgeordnete, die strafrechtlich eine "saubere Weste" haben. Netanjahu befindet sich also im "Würgegriff" seiner Koalitionspartner, die ihm ihre Unterstützung verwehren würden, sollte die Justizreform (und andere ihrer extrem konservativen Forderungen) nicht durchgesetzt werden. Das würde für ihn das "Aus" seiner politischen Karriere und mit grosser Wahrscheinlichkeit eine Verurteilung bedeuten.


- In Israel herrscht eine allgemeine Wehrpflicht. Männer müssen für gut drei Jahre, Frauen für gut zwei Jahre Wehrdienst leisten. Ausserdem ist die israelische Armee auf die vielen Reservisten angewiesen, die bei Bedarf mobilisiert werden. Seit ich viele israelische Freunde habe, muss ich manchmal etwas schmunzeln, wenn sich Schweizer Armeeangehörige über die Verhältnisse und die Härte des Militärdienstes beschweren. Für die Israelis ist es eine Zeit, in der sie jederzeit mit Ernstfällen, Verwundung oder dem Verlust ihres Lebens rechnen müssen. Meine Freundin Mor ist Psychologin und arbeitet auf einer Abteilung für ehemalige Armeeangehörige mit Posttraumatischer Belastungsstörung. Was sie erzählt, lässt mich sehr sehr nachdenklich werden! Von der aktuellen Regierung haben die meisten Mitglieder keinen Militärdienst geleistet, weil sie zu den Ultraorthodoxen, den sogenannten Charedim gehören. Diese lassen sich aus religiösen Gründen vom Militärdienst befreien und setzen Mitglieder ihrer Gemeinschaften, die Militärdienst leisten wollen, massiv unter Druck. Gleichzeitig erwarten sie von den, in ihren Augen, Ungläubigen, dass sie für den Schutz des Landes und ihrer Familien sorgen. Es ist unschwer, sich vorzustellen, dass das für grossen Unmut sorgt und sich Israelis, von denen viele in irgendeiner Form an den Folgen ihrer Erlebnisse im Militärdienst leiden, auf Deutsch gesagt "verarscht" vorkommen.

Hier ein Link zu einem sehr interessanten Artikel über eine Studie zum Thema "Die Charedim als Herausforderung für den jüdischen Staat":


- Premierminister Netanjahu will wegen der andauernden Proteste vor "seiner Haustüre" nicht im Regierungssitz wohnen. Sein Privathaus befindet sich unweit davon im gleichen Jerusalemer Viertel Rechavia und wird jetzt auf Staatskosten auf den selben Sicherheitsstandart gebracht wie der Regierungssitz. Auch sein Ferienhaus in Galiläa wird mit Steuergeldern aufgerüstet. In einer Gesellschaft, in der sehr viele Menschen sich nur mit mehreren Jobs über Wasser halten können und Mieten und Lebenshaltungskosten, v.a. in den Städten, inzwischen nahezu denen in der Schweiz entsprechen, sorgt dies natürlich für grossen Unmut! Die durchschnittlichen Löhne liegen zwischen 1200 und 2600 Sfr. wobei sie bei internationalen Firmen (v.a. in der IT und Technikbranche) höher sind. Überstunden werden nicht vergütet, bei Krankheit erhalten viele Arbeitnehmer keinen Lohn (erinnerst du dich an "meinen" Taxifahrer vom ersten Artikel?) und bezahlte Ferien sind meistens auch nicht vorgesehen. Viele der Ultraorthodoxen Gemeinschaften werden von jüdisch-orthodoxen Organisationen aus dem Ausland finanziert und nicht wenige Charedis gehen keiner Arbeit nach, sondern widmen ihre ganze Zeit dem Studium der Thora und der Rabbinischen Gesetze.

Ich hoffe, ich konnte dir einen Einblick geben, der dich zum Nachdenken oder selber weiter Nachforschen anregt und vielleicht deine Wahrnehmung des Themas ein klein wenig verändert hat. Ich bin sehr gespannt, wie es mit den Plänen der Regierung weitergeht und welche Auswirkungen eine Durchsetzung der Justizreform hätte. Im Innersten hoffe und bete ich jedoch, dass es eine Lösung gibt, mit der sich mehr als nur eine Minderheit der israelischen Bevölkerung zumindest abfinden könnte.

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